Während sich Seiffen immer deutlicher auf die Weihnachtssaison einstimmt, beschäftigen wir uns nach wie vor mit der deutschen Geschichte.[1] Der Anlass ist eine Leihanfrage des Stadtmuseums Berlin: eines unserer Holzspielzeuge, die „Stalin-“ bzw. „Karl-Marx-Allee“ soll in der Ausstellung „BerlinZeit“ die Entwicklung Berlins in den 50er Jahren dokumentieren. Tatsächlich stand (und steht) die Stalin- bzw. Karl-Marx-Allee für viel mehr. Ihre Symbolkraft prägt selbst unsere Miniaturausgabe, die zugleich ein wunderbares Beispiel für den Bedeutungswandel ist, den Museumsobjekte mit der Zeit durchlaufen können.
„Die Zeit der Erfolge hat begonnen“ titelte Walter Ulbricht 1950 in der Vorbereitung des 3. Parteitags der SED. Das großangelegte Bauvorhaben der Stalinallee sollte diese Erfolge für alle Welt sichtbar machen. Mit enormem Aufwand medial inszeniert, kündeten die prachtvollen Bauten vom solidarischen Zusammenhalt der sozialistischen Länder und ihrer Bevölkerung sowie den wirtschaftlichen, technischen und sozialen Errungenschaften der DDR.
Dass die Stalinallee Einzug in die Spielzeugwelt hielt, ist kaum verwunderlich. So brachte S. F. Fischer 1956 einen Baukasten heraus, mit dem sich die Stalinallee nachbauen ließ. Die Seiffener Variante entstand 1959. In den Protokollbüchern der Drechslergenossenschaft finden sich ab Juli 1959 Einträge zu einem anlässlich des 10. Jahrestages der DDR erteilten Staatsauftrag, der neben der Stalinallee auch das Gaskombinat „Schwarze Pumpe“ und die erste Fluggesellschaft der DDR, die Deutsche Lufthansa, beinhaltete. Die drei Spielzeuge wurden nach Entwürfen von Hans Reichelt von verschiedenen Seiffener Firmen produziert. Nachdem die vereinbarten 15.000 Stück geliefert worden waren, stieß ein Folgeauftrag des Ministeriums auf Schwierigkeiten, da die beteiligten Hersteller aus verschiedenen Gründen in Verzug gerieten: die Darstellung der sozialistischen Erfolge scheiterte an der sozialistischen Realität.
Auf den Museumskarteikarten sind die Spuren der Geschichte noch anders sichtbar. Nach Stalins Tod wurde aus der Stalin- die Karl-Marx-Allee. Straßenschilder wurden getauscht und das Stalin-Denkmal abgebaut; auf den Karteikarten reichten einfache Streichungen. Heute ist dieses Spielzeug ein beliebtes Leihobjekt, wobei entsprechende Anfragen an das Spielzeugmuseum immer unter dem Namen „Stalinallee“ erfolgen. Die Symbolkraft von Straße und Spielzeug ist also ungebrochen – wenn auch kaum identisch mit der ursprünglich intendierten. (SG)
[1] Für Hinweise und Unterstützung bei der Recherche bedanke ich mich herzlich bei Konrad Auerbach, Helfried Dietel, Johannes Günther und Juliane Kröner.